Baugeschichte
Die Evangelische Kirche in Anhausen Ort der Einkehr und des Gebets
Die Anhausener Kirche besteht aus fünf Gebäudeteilen. Diese Gebäudeteile sind gut zu erkennen. Es lohnt sich sowohl ein Gang um die Kirche herum (am Turm beginnend und dann gegen den Uhrzeigersinn) als auch ein Gang durch die Kirche (im Turm beginnend und dann gegen den Uhrzeigersinn).
Der älteste Teil der Kirche ist der Turm. Er ist vermutlich über 1000 Jahre alt. Im Turmeingang kann die Wandstärke des unteren Geschosses, auf der Besucherempore auch die Wandstärke des darüber liegenden Geschosses in Augenschein genommen werden. Nach der Vorstellung von Architekt E.J. Thomas, der die wichtigen Renovierungsarbeiten von 1975 bis 1978 leitete, könnte es sich bei dem Turm um einen Limes-Wachturm handeln. Dafür spricht der mit den Limeswachtürmen über-einstimmende Grundriss. Später wurde der Turm aufgestockt und diente den Bewohnern des Dorfes auch als Wehrturm. Darauf weisen die Sehschlitze im Turm hin. Als um 1200 die Kirche errichtet wurde, wurde der Turm um einen Glocken-stuhl erweitert. Wann welche Glo-cken in den Kirchturm kamen, lässt sich nicht genau sagen. Die älteste Glocke, die keine Inschrift enthält, wird allgemein als „mittelalterlich“ bezeichnet. Die zweitälteste, mit der Inschrift „O rex gloriae veni cum pace“(„Oh König der Ehre komm und bring Frieden“), stammt vielleicht aus dem 14. Jahrhundert. Die jüngste Glocke wurde erst 1952 in den Kirchturm gebracht. Ihre bei-den Vorgänger waren im ersten bzw. im zweiten Weltkrieg eingeschmol-zen worden. Die Inschrift lautet „Er-halt uns Herr bei deinem Wort“.
Etwa 1000 Jahre alt sind die drei wuchtigen Arkaden, die Haupt- und Seitenschiff voneinander trennen. Die Arkaden (und der Turm) gehör-ten zu einem Vorgängergebäude der Kirche. Welchen Zweck dieses Ge-bäude erfüllte, ist nicht bekannt. Architekt Thomas vermutete eine „Königshalle“, in der Abgaben für den König, die in der Region zusammengetragen worden waren, gelagert wurden. Vom Hauptschiff aus kann man in der rechten Arkade noch in einigen Feldern Reste der alten Ausmahlung sehen. Es handelt sich um die Stellen, die einen verwischten Eindruck machen.
Um das Jahr 1200 wurde dann das Hauptschiff errichtet. Seit dieser Zeit wurde das Gebäude als Kirche genutzt. Man schätzt, dass 120 bis 140 Menschen in der Kirche Platz fanden. Man stand damals während des Gottesdienstes. Die Kirche war das Gotteshaus für die Menschen aus Anhausen, Meinborn, Rüscheid und Thalhausen. Diese vier Dörfer, deren Bevölkerung im 13. Jahrhundert auf etwa 300 bis 350 geschätzt wird, bildeten seit alters das Kirchspiel Anhausen. - Der Kirchraum wurde vielfach umgestaltet. Reste der alten Farbgebung aus der Zeit um 1500 finden sich am Fenster neben der Kanzel. Über dem inzwischen wieder geschlossenen Seiteneingang finden sich, an den verwischt erscheinenden Stellen, Reste noch älterer Farbgebung. Die kleine Nische einige Meter rechts des alten Eingangs deutet wohl auf einen früheren Nebenaltar der Kirche hin. Die erhöht gelegenen Fenster der Südseite leisteten ihre Dienste als im 17. Jahrhundert Emporen in die Kirche eingebaut wurden. Diese Emporen waren z.T. zweistöckig. Vor allem die Männer der Kirchspielsdörfer hatten hier ihre Plätze. Man saß nach Dörfern getrennt. Reste der alten Emporen wurden in der Kirche bei der großen Renovierung in den 70er Jahren verbaut, vor allem an den jetzigen Emporen. Die Kanzel stammt wohl aus dem 17. Jahrhundert. Die Metallöse über der Kanzel zeugt noch vom früher üblichen Schalldeckel. Er dienste als eine Art Verstärkeranlage. An der Stelle, an der nun der moderne Taufstein steht, befand sich früher ein Kachelofen. Auf dem Speicher der Kirche ist dessen Kamin noch gut zu erkennen. Nicht zu erkennen ist hingegen, dass die Kirche im Mittelalter besonderen Personen auch als Grabstätte diente. Ein Fund im heutigen Mittelgang des Hauptschiffes belegte das.
Gegen Ende des 13. Jahrhundert entstanden der große romanische Bogen und der dahinter liegende Chorraum. Im Chorraum befand sich bis in die Reformationszeit hinein ein „Altar unserer lieben Frau“, also ein Marienaltar. Die reformierte Gemeinde Anhausen schaffte stattdessen einen „Abendmahlstisch“ an, der noch heute im Dachgeschoss des evangelischen Gemeindehauses steht. Der heutige Altar ist wie auch die Chorfenster modern (ca. 1978). Ebenso ist die gesamte Ausmalung des Chorraumes erst 30 Jahre alt. Alte Farbreste fand man, mit Ausnahme der Stelle neben der Sakristeitür, nicht mehr. Die Art der Ausmalung lehnt sich an spätromanische Vorbilder aus der Region an.
Vom Chorraum aus gelangt man in einen kleinen Anbau aus dem 15. Jahrhundert. Vermutlich diente er zunächst als Seitenkapelle. Darauf weist die relativ aufwändige Gestaltung des gotischen Kreuzrippengewölbes hin. Später, aber noch vor der Reformation, wurde der Raum als Sakristei genutzt, was sich am Lavabo (also: Handwaschbecken für religiöse Zwecke) erkennen lässt. Eine etwas profane Umnutzung als Holzlagerraum brachte wohl der Einbau des oben erwähnten Kachelofens mit sich. Erst seit der Renovierung vor ca. 30 Jahren ist der Raum wieder in schönem Zustand und wird nun wieder als Sakristei genutzt.
Auch das Seitenschiff und die darüber liegende Orgelempore wurden in den Jahren 1975 bis 1978 errichtet. Allerdings muss im Mittelalter hier ein Vorgängerbau gestanden haben. Denn nur so sind die oben erwähnten romanischen Arkaden zu erklären. Dieser Vorgängerbau wurde vermutlich abgebrochen als die Seitenkapelle errichtet wurde. Da man vom Seitenschiff aus nur schlecht dem Gottesdienst in Hauptschiff und Chorraum folgen konnte – die wuchtigen Arkaden verwehren den Blick vom Seitenschiff ins Hauptschiff – wurden bei den jüngsten Renovierungsarbeiten im Jahr 2002 im Hauptschiff zwei Kameras und im Seitenschiff ein Videobeamer und eine Leinwand eingebaut. So können Gottesdienstbesucher, die im Seitenschiff Platz finden, gut am Gottesdienstgeschehen teilnehmen. Auch die Orgel ist erst 30 Jahre alt. Schon vom Hauptschiff aus lässt sich erkennen, dass sie sich auf der Empore über dem Seitenschiff befindet. Die ca. 800 Orgelpfeifen sind den Besucherinnen und Besuchern aber meist verborgen.
Das Gelände um die Kirche herum war früher der Kirchspielsfriedhof. Die wenigen alten Grabsteine an der Südwand der Kirche erinnern daran. Weiter mahnen zwei Gedenksteine zu Frieden, Toleranz und Menschlichkeit. Es sind Gedenksteine für die Opfer der beiden Weltkriege und für die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die z.T. in Sichtweite der Kirche lebten. Das Bruchsteingebäude direkt neben der Kirche war die alte Dorfschule. Das größere Fachwerkhaus mit modernem Anbau schräg gegenüber der Kirche war früher das Pfarrhaus (heute: evangelisches Gemeindehaus). Das Ensemble wurde ergänzt durch die Mitte des 20. Jahrhunderts abgerissenen Zehntscheune, die rechtwinklig zum alten Pfarrhaus stand.
Andreas Laengner
Weitere Informationen in: Arno Schmidt, Karl Henn, Anhausen – fränkische Siedlung an alter Rheinstraße, 1998. Dort ist auch weiterführende Literatur genannt.